Vor 110 Jahren präsentiert Harley-Davidson seinen ersten V2. Die Maschine entwickelt aus 811 cm3 7 PS und bringt es auf über 100 km/h. Die weiterentwickelte Version erscheint 1911.
Man schreibt das Jahr 1903, als Harley-Davidson seine ersten, in einem Hinterhofschuppen von Milwaukee gebauten Motorräder verkauft – fortan wächst und gedeiht das Unternehmen prächtig. Der zuverlässige Single wird permanent weiterentwickelt und schon drei Jahre später entsteht die erste, rund 200 m2 große Harley-Davidson Fabrik in der Chestnut Street, die später Juneau Avenue heißen wird. 1909 arbeiten hier bereits 35 Angestellte, die 1.149 Motorräder fertigstellen. In einigen Dutzend dieser Zweiräder schlägt ein völlig neues Herz. Ihr Name lautet Model 5-D und ihr Motor verfügt nicht nur über einen Zylinder, sondern über deren zwei.
Da die Kundschaft nach mehr Leistung dürstet, hat William „Bill“ Harley, technischer Leiter der jungen Firma, in mehrjähriger Arbeit diese für das Unternehmen bahnbrechende Neuerung konstruiert. 811 cm3 Hubraum statt wie bisher 440 und 7 PS statt der bisherigen 4 sorgen bei Bedarf für ein geradezu unvorstellbares Tempo von über 100 km/h.
Die beiden Graugusszylinder des ersten Harley-Davidson Twins stehen in einem Winkel von 45 Grad zueinander, zwei fette Kolben bewegen sich darin auf und ab, ihre Pleuel übertragen die Kraft mittels eines gemeinsamen Hubzapfens an die mächtige Kurbelwelle, deren Gehäuse und Lager Bill Harley verstärkt hat. Blanke Stahlteile wurden verkupfert und anschließend vernickelt, Leichtmetallteile poliert. Ein Getriebe gibt es nicht, gebremst wird per Rücktritt auf die Pedale. In elegantem Schwung legt sich der Unterzug des Rohrrahmens um das Triebwerk. 7,6 l fasst der Kraftstofftank, 3,8 l jener für die Verlustölschmierung. Zeitgemäßen Komfort stellen die Cushion-Springergabel und ein gefederter Sattel sicher. Zum Preis von 325 Dollar bietet die Motor Company die schicke Maschine in den Farben Piano Black oder Light Gray with Carmine Striping an.
Wie bei allen Harley Modellen dieser Epoche atmet der V2 über atmosphärisch gesteuerte Ventile, sogenannte Schnüffelventile, ein. Sie öffnen, wenn der nach unten gleitende Kolben einen Unterdruck im Zylinder erzeugt. Das Prinzip, das im Single prima funktioniert, erweist sich beim V-Twin als dessen Achillesferse, denn es erschwert sein Starten und beschert ihm einen zuweilen unsauberen Lauf. Zudem neigt der Riemen, der das Hinterrad antreibt, aufgrund der hohen Motorkraft zum Durchrutschen. Derartige Schwächen lassen Bill Harley nicht ruhen. So setzen er und die Davidson-Brüder die V2-Produktion ein Jahr lang aus, bis die Konstruktion vollends den Ansprüchen des Unternehmens genügt. 1911 ist es so weit: Die Schnüffelventile haben ausgedient, ab jetzt werden auch die Einlassventile mechanisch zwangsgesteuert. Darüber hinaus kommen ein neuer Hinterradantrieb mit Kupplungsmechanismus, hochfeste Stähle und ein noch stabilerer Rahmen zum Einsatz. Damit steht dem Siegeszug des V2 endlich nichts mehr im Weg.
Wenngleich Harley-Davidson in den folgenden Jahrzehnten vom Zweitakter über das Boxerprinzip bis zum Vierzylinder etliche Konzepte ausprobiert, bleibt der klassisch schöne V-Twin mit seinem Viertaktprinzip, dem Zylinderwinkel von 45 Grad und dem Gabelpleuel der stilbildende Motor für das Unternehmen. Er formt Look, Sound und Seele der Maschinen aus Milwaukee und avanciert zum Markenzeichen der Company. 2019 findet man die Nachkommen der frühen V2-Triebwerke – über Jahrzehnte gereift und stets auf der Höhe ihrer Zeit – in mehr als 30 Maschinen der Sportster, Softail und Touring Baureihe. Die Faszination des Konzepts ist ungebrochen.